Über das Projekt

Die Kuratoren

Serge von Arx
Antonio Becchi
Sabine Hoffmann
Jürgen Renn
Matteo Valleriani

Grußworte

Obwohl er sich gerne als „Mann ohne Bildung“ bezeichnete, beschränkte sich Leonardo nicht darauf, aus der direkten Untersuchung von Naturphänomenen zu lernen. Nicht weniger Aufmerksamkeit widmete er der Auseinandersetzung mit antiken und modernen Autoren. In seinen reifen Jahren war er nicht nur ein eifriger Leser, sondern war auch zu einem unersättlichen Jäger von Büchern und Manuskripten geworden. Er verstand sie als Landkarten, auf denen Wege des Wissens eingezeichnet waren, aus denen er Inspiration schöpfen konnte, um neue und besser beleuchtete Pfade zu verfolgen. Am Ende seines Lebens besaß er fast zweihundert Werke: eine außergewöhnliche Bibliothek für einen Ingenieur-Künstler des 15. Jahrhunderts, nicht nur in Bezug auf die Menge, sondern auch auf die Vielfalt der abgedeckten Disziplinen. Leonardo hielt in seinen Manuskripten genaue Inventare dieser Bände fest, um sicher zu sein, dass er sie vollständig zurückerhielt, wenn er sie aus den Depots, in denen er sie hinterlassen hatte, herausnahm, bevor er sich auf eine der ständigen Reisen begab, die sein Leben prägten.

Leider ist von den Büchern und Manuskripten, die Leonardo gesammelt hat, keine Spur mehr vorhanden. Nur ein einziges Exemplar hat die Zerstreuung seines Erbes nach dem Tod überlebt: der Traktat über Architektur und Maschinen (Trattato di architettura e macchine) von Francesco di Giorgio, eine in der Biblioteca Medicea Laurenziana in Florenz aufbewahrte, prächtige Pergamenthandschrift, auf die Leonardo eigenhändig zwölf Notizen schrieb.

Carlo Vecce, einer der international renommiertesten Leonardo-Forscher, hat – auf der Grundlage jahrelanger Forschung an den Manuskripten und Dokumenten, die Leonardos Leben und Werk bezeugen – die Zusammensetzung der Bibliothek rekonstruiert, die dieser im Laufe eines langen und arbeitsamen Lebens aufgebaut hat. Er hat unschätzbare Einsichten in die verschiedenen Phasen des Aufbaus dieses bemerkenswerten Wissensfundus geliefert, den Leonardo beständig, intensiv und fruchtbar nutzte. Die Ergebnisse dieser spannenden Untersuchung sind nun dank des von Carlo Vecce verfassten Buches La biblioteca di Leonardo (Florenz 2021) für die große internationale Gemeinschaft der Leonardo-Forscher zugänglich.

Die beeindruckende Arbeit, die Vecce in Zusammenarbeit mit Dutzenden von Spezialisten aus den vielen Fachgebieten, auf die der bibliophile und unerschöpflich neugierige Leonardo seine Augen richtete, geleistet hat, markiert einen Meilenstein in der Leonardo-Forschung. Zum ersten Mal steht den Forschern ein umfassendes Repertorium zur Verfügung, aus dem sie verlässliche Informationen über die Quellen schöpfen können, aus denen dieser Universalmensch seine Inspiration bezog. Eine Inspiration, die immer kreativ war, denn Leonardo war nie ein passiver Leser, sondern verband seine Bewunderung für die Autoren der Texte, die ihn am meisten faszinierten, mit einer instinktiven Neigung, ihre Schlussfolgerungen in Frage zu stellen oder sie auf neue Implikationen hin zu untersuchen.

Vecces Werk La Biblioteca di Leonardo ist gemeinsam mit der vom Museo Galileo herausgegebenen Digitalen Bibliothek der Bücher und Manuskripte Leonardos zu nutzen (https://bibliotecadileonardo.museogalileo.it): ein im Web überall und jederzeit zugängliches Werkzeug, das unentbehrlich ist, wenn man den Nachhall der Lektüren Leonardos in seiner literarischen, künstlerischen und technisch-wissenschaftlichen Produktion
erfassen möchte. Diese digitale Bibliothek ist eine äußerst reiche Forschungsressource, die durch die Großzügigkeit und Kooperationsbereitschaft von Bibliotheken und kulturellen Einrichtungen möglich wurde, die es uns erlaubt haben, die wertvollen historischen Zeugnisse, die sie bewahren, als digitale Bilder zu erwerben und zu reproduzieren.

Ein Meilenstein des Forschungsprojekts, das mit der Publikation des Buches von Vecce abgeschlossen wurde, war auch die Ausstellung Leonardo e i suoi libri. La biblioteca del genio universale (Leonardo und seine Bücher. Die Bibliothek des Universalgenies), die im Sommer 2019 vom Museo Galileo in Zusammenarbeit mit der Kommission für die Nationale Ausgabe der Manuskripte und Zeichnungen von Leonardo da Vinci und unter der Schirmherrschaft des Nationalkomitees zur Feier des 500. Todestages von Leonardo da Vinci gezeigt wurde. Diese Ausstellung ist vor allem deshalb von Bedeutung, weil sie auch dem nicht fachkundigen Publikum die elementare Rolle erläutert, die Bücher und Manuskripte für Leonardos intellektuelle Entwicklung und bei der Orientierung seines kreativen Genies spielt – in einer beispiellosen Vielfalt von Themen, die heute unendlich weit voneinander entfernt scheinen. Nach der Präsentation der Ausstellung in Florenz wurde sie durch die Accademia Nazionale dei Lincei in Rom erneut gezeigt.

Es ist eine große Freude zu sehen, dass diese Ausstellung nunmehr in einer neuen und beeindruckenden Gestalt und bereichert durch weitere originale Ausstellungsstücke das Licht der Öffentlichkeit erneut erblickt. Innovation in Kontinuität ist das Motto, das die Berliner Ausstellung prägt, ganz im Sinne des Geistes der ständigen Verbesserung, der Leonardos Denken und Wissensdrang prägte.

Diese wichtige Neuinterpretation der ursprünglichen Ausstellungsgestaltung ist das Ergebnis des Engagements und der wissenschaftlichen Expertise der beteiligten Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Max-Planck-Instituts für Wissenschaftsgeschichte in Berlin. Stellvertretend für alle Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler des Max-Planck-Instituts, die an diesem Projekt mitgearbeitet haben, spreche ich meinem Freund und Kollegen Jürgen Renn, Direktor an dieser angesehenen Forschungseinrichtung, meine tiefste Bewunderung und meine aufrichtigen Glückwünsche dafür aus, dass sie dieses ehrgeizige Projekt erfolgreich vollendet haben – trotz der Schwierigkeiten, die die Pandemie, die, während ich dies schreibe, den Planeten weiterhin geißelt, einem Vorhaben von ausgeprägt internationalem Charakter in den Weg gestellt hat.

Mein Dank und meine Anerkennung gelten ebenso der Generaldirektorin der renommierten Staatsbibliothek zu Berlin, Barbara Schneider-Kempf, die an dieses Projekt von Anfang an geglaubt hat, und dem italienischen Botschafter in Berlin, S.E. Luigi Mattiolo, der zusammen mit dem Italienischen Kulturinstitut das Projekt der Neuauflage der Ausstellung in der Hauptstadt der Bundesrepublik Deutschland seit dem ersten Entwurf entscheidend gefördert und unterstützt hat. Nicht zuletzt möchte ich meinen Dank der NOMIS-Stiftung für die großzügige Unterstützung des Berliner Ausstellungsprojektes und der gemeinsamen Forschungsanstrengungen der beteiligten Wissenschaftlerteams aussprechen.


Es freut mich sehr, Sie als Besucher*innen der Ausstellung und Leser*innen des Katalogs „Leonardos intellektueller Kosmos“ begrüßen zu können. Dem Ausstellungsteam unter Leitung von Jürgen Renn ist es in bewundernswerter Weise gelungen, das Projekt in Zeiten der Pandemie zum Abschluss zu bringen. Dem Team sowie den beteiligten Institutionen – dem Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte, der Staatsbibliothek zu Berlin, dem Museo Galileo, der Ambasciata d’Italia a Berlino sowie der NOMIS-Stiftung – gebührt unser großer Dank.

Der Öffentlichkeit ist Leonardo vor allem durch seine Meisterwerke bekannt. Diese Ausstellung wirft einen Blick auf die Zeitgenossenschaft Leonardos. Welche Werke hat Leonardo gelesen? Welche Kenntnisse besaß er, als er sich an seine eigenen Studien machte? Um Antworten auf diese Fragen zu erhalten, haben die Ausstellungsmacher Leonardos Bibliothek rekonstruiert. Da Leonardos eigene Bücher verschollen sind, haben sie die Berliner Leonardo-Bibliothek aus vergleichbaren zeitgenössischen Werken zusammengestellt. Die Bände stammen aus Berliner Beständen, insbesondere aus der Staatsbibliothek, aber auch aus der Bibliothek des Max-Planck-Instituts für Wissenschaftsgeschichte. Sie bezeugen nun das Wissen, das Leonardos intellektuellen Kosmos ausgemacht hat.

Besonders aufschlussreich ist der Kontrast zwischen Leonardos Büchern und seinen eigenen Aufzeichnungen. Die Notizbücher Leonardos zeigen das Unabgeschlossene, Experimentelle, Über-Reiche seines Werks. Ein schönes Beispiel bietet das erste Exponat der Ausstellung (1 ▲). Leonardo demonstriert an diesem Blatt Geometrieübungen zur Transformation unterschiedlicher Rechtecke. Plötzlich bricht die Argumentation ab, ein lapidares „ecc.“ verweist auf die mögliche, vielleicht sogar beabsichtigte Fortführung des Diskurses.

Auch den Grund, der zum plötzlichen Abbruch zwingt, teilt er mit: „ecc. perché la minestra si fredda“. Weil die Suppe kalt wird, müssen die Studien zu einem späteren Zeitpunkt wieder aufgenommen werden – wenn sie sich nicht gänzlich anderen Gegenständen zuwenden.

Es waren mithin weniger bestimmte Gegenstände, die Leonardo interessierten, als deren Transformation, Dynamik und Funktionsweise. Ästhetik und Mechanik bilden keine Gegensätze, sondern bedingen einander. Immer wieder verblüfft die enorme Präzision seiner Beobachtung komplexer dynamischer Systeme. Zeichnungen der Turbulenzen des Wassers, illustrierte Notizen zum Vogelflug und die nicht verwirklichte Bronzeskulptur eines sich aufbäumenden Pferds mit Reiter sind herausragende Beispiele von Leonardos stupender Befähigung zur Beobachtung und Darstellung komplexer Bewegungen.

Dank der Ausstellung können wir nun den intellektuellen Kosmos nachvollziehen, der Leonardos Lebensweg begleitet hat. Und die menschliche Entwicklung ist selbst ein komplexes dynamisches System. Deswegen vermögen weder die Rekonstruktion von Leonardos intellektuellem Kosmos noch psychoanalytische Deutungen seiner frühen Kindheit seine Einzigartigkeit zu erklären. Großes Talent und günstige Umstände ermöglichten einen sich selbst verstärkenden Prozess, der seinen eigenen Gesetzen folgt. Wir als staunendes Publikum erhalten nun die Gelegenheit, ihn nachverfolgen zu können.

Die 2021 in der Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz stattfindende, gemeinsam mit dem Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte in Berlin durchgeführte und unter der Schirmherrschaft des italienischen Botschafters stattfindende Ausstellung zum Künstler- und Wissenschaftsgenie Leonardo da Vinci kommt zwei Jahre zu spät, sollte sie doch an den 500. Todestag Leonardos im Jahre 2019 erinnern. Doch es ist nie zu spät, sich mit dem intellektuellen Kosmos dieses uomo universale der Frühen Neuzeit zu befassen. Im Mittelpunkt der Ausstellung steht die Rekonstruktion von Leonardos Bibliothek, Grundlage und zugleich Quelle seines Wissens, Schaffens, Entdeckens und Experimentierens. Insofern gibt es eigentlich keinen besseren Ort für eine solche Präsentation als die größte wissenschaftliche Universalbibliothek im deutschsprachigen Raum: die Staatsbibliothek zu Berlin.

Die Museen, Bibliotheken, Archive und Forschungsinstitute der Stiftung Preußischer Kulturbesitz besitzen Sammlungen und Bestände enzyklopädischen Charakters und von Weltrang. Gerade die den fundamentalen Umbruch vom Mittelalter zur Neuzeit beschreibende Epoche der Renaissance, die Leonardo in besonderer Weise prägte, ist in den Sammlungen der Staatlichen Museen zu Berlin wie auch der Staatsbibliothek zu Berlin durch bedeutende Werke vertreten. Nur Leonardo da Vinci fehlt: Die Stiftung besitzt weder Handschriften noch Inkunabeln noch erwähnenswerte Frühdrucke noch ihm eindeutig zuweisbare Kunstwerke. Doch auch nirgendwo sonst sind Originale aus seiner Handbibliothek erhalten; insofern kann es nur darum gehen, Exemplare jener Texte zusammenzutragen, die er besessen haben muss und die ihn beeinflusst haben dürften, auch wenn die hier gezeigten Ausgaben und Exemplare keine direkte Verbindung zum Meister aufweisen.

Wilhelm von Bode glaubte diese Lücke zumindest für die Sammlungen der Staatlichen Museen zu Berlin schließen zu können, indem er 1909 eine Wachsbüste der römischen Blütengöttin Flora für das Kaiser-Friedrich-Museum, heute Bode-Museum, erwarb und Leonardo da Vinci zuschrieb. Dieser Ankauf verursachte nach Bekanntwerden jedoch einen beispiellosen Pressestreit zur Urheberschaft, und die Diskussion darüber hält die Kunstgeschichte bis heute in Atem, auch wenn sich weit über 700 Artikel, Studien und Untersuchungen des Themas annahmen. Leonardo hielt die Berliner Sammlungen der Stiftung Preußischer Kulturbesitz also vor allem durch die eine Frage in Atem, ob er denn nun in ihnen präsent ist oder eben nicht; vieles spricht für letzteres.

Leonardo da Vinci bleibt eine ganz besondere Ausnahmeerscheinung der europäischen Kunst- und Wissenschaftsgeschichte. In seiner genialen Universalität erinnert er aber an einen berühmten Berliner, der im Jahr des 500. Todestages Leonardos seinen 250. Geburtstag feierte: Alexander von Humboldt. Beide gelten mit Recht als Universalgelehrte und rastlose Genies, wenn auch der eine mehr Künstler, der andere mehr Entdecker war. Beide lebten in den bedeutendsten politischen, wirtschaftlichen und intellektuellen Metropolen ihrer Zeit, und dabei jeweils nach tiefgreifenden Umwälzungen: Leonardo in Florenz nach der Schreckensherrschaft Savonarolas, Alexander in Paris nach der Französischen Revolution. Beide begegneten den bedeutendsten Herrschern ihrer Zeit: Leonardo Cesare Borgia, dem Papst und dem französischen König, Alexander den preußischen Königen Friedrich Wilhelm III. und IV., Thomas Jefferson und Napoleon. Beide waren zukunftsweisende Erfinder: Leonardo entwickelte Taucheranzüge und die unterschiedlichsten futuristischen Maschinen, Alexander Grubenlampen und Atemgeräte. Beide glaubten an die Schönheit der Natur und an die Einheit von Natur und Mensch, beschrieben und zeichneten Pflanzen und Tiere. Beide wirkten als Geologen und Geografen: Leonardo befasste sich mit den Wolken sowie mit den Gezeiten im Schwarzen und im Kaspischen Meer, Alexander mit dem Humboldt-Strom und anderen Naturphänomenen in Lateinamerika. Und beide schrieben ihre Beobachtungen und Entdeckungen in Tagebüchern nieder, die sie unentwegt ergänzten: Leonardo in seinen berühmten Notizheften, von denen er einige wohl am Gürtel hängend trug, Alexander in seinen Tagebüchern, die er auf allen Entdeckungsreisen ständig bei sich führte. Und hier offenbart sich der vielleicht bedeutendste Unterschied: Während Leonardos Manuskripte heute weitgehend zerstreut sind, werden die Reisetagebücher, Briefe und anderer Nachlass Alexanders von Humboldt in der Staatsbibliothek zu Berlin auf vorbildliche Weise verwahrt, erschlossen und der Forschung zur Verfügung gestellt.

Gedächtnisinstitutionen und Wissensarchive wie die Staatsbibliothek und die anderen Einrichtungen der Stiftung Preußischer Kulturbesitz machen einmal mehr deutlich, welches Potential sie besitzen, wenn es darum geht, einzigartige und prägende Künstler und Gelehrte vergangener Epochen in ihren Leistungen begreiflich zu machen, dabei in den Kontext ihrer Zeit zu stellen und sie dadurch zu uns sprechen zu lassen und zu neuem Leben zu erwecken. Diese Ausstellung unterstreicht es eindrucksvoll, welche Übersetzungsleistungen Gedächtnisinstitutionen zu erbringen imstande sind. Dazu bedarf es aber auch der Verknüpfung unterschiedlicher und einander komplementär ergänzender Kompetenzen. Insofern erwies es sich als Glücksfall, dass das Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte hier zu dieser fruchtbaren Zusammenarbeit mit der Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz gefunden hat. Den Initiatoren der Ausstellung und allen Beteiligten, die ihr Zustandekommen ermöglichten, ist sehr zu danken, dass sie uns Leonardo da Vinci und sein Wirken in seiner Zeit auf eine ganz neue und besondere Weise näherbringen.

Wie besonders geeignet für eine Ausstellung zu Leonardos intellektuellem Kosmos ist die Staatsbibliothek zu Berlin mit ihrem Haus am Kulturforum! So ist eine Bibliothek zunächst per definitionem die physische Ausprägung einer geistigen Welt, quasi deren Materialisierung. Daneben würde Leonardo, lebte er heute, sich in der Staatsbibliothek bestimmt sehr wohl fühlen. Literatur für seine Studien zur Architektur, zur Geometrie, Statik und Dynamik, zur Anatomie und zur Mathematik würde er hier finden. Nur einen kurzen Gang über die Straße würde er benötigen, um die Gemälde der Großen seiner Zeit zu betrachten und mit dem Kupferstichkabinett und der Kunstbibliothek weitere Orte für seine Arbeit und – nebenbei auch zwei Beiträger zu seiner Ausstellung – zu entdecken. Erweitert man den Kreis, so ist Berlin eine Stadt sowohl der Wissenschaft und der Technik als auch der Künste, lassen sich Kooperationen zwischen forschenden Instituten, Bibliotheken und Museen leicht begründen und bilden so ein gutes Fundament für die Betrachtung des Denkens eines des berühmtesten Universalgelehrten der Kultur- und Geistesgeschichte.

Bei aller Modernität, die wir dem sehr frühen Vordenker vieler erst Jahrhunderte später realisierter technischer Errungenschaften gerne zuschreiben und allen herstellbaren Bezügen zur Gegenwart muss man allerdings im Auge behalten, dass die Zeit der Renaissance den Forschenden doch vor für uns heute unbekannte Herausforderungen stellte. Eine Privatbibliothek, wie sie Leonardo sein Eigen nannte, war keineswegs eine Selbstverständlichkeit. Umso spannender ist die Idee einer Rekonstruktion dieser Bibliothek mithilfe von überlieferten Bücherlisten. Auch wenn von Leonardos Sammlung nur sehr wenig erhalten ist, so gibt doch auch eine möglichst dicht an den damals vorhandenen Ausgaben angelehnte Präsentation einen Eindruck von den Grundlagen, die Leonardo zur Verfügung standen.

Bemüht man das Bild von der aktuellen Wissenschaft als den „Zwergen, die auf den Schultern von Riesen sitzen“, so ist Leonardo ganz unumstritten einer jener Riesen, der die Wissenschaft in den über 500 Jahren seit seinem Tode geprägt und beeinflusst hat. Seine nachgestellte Bibliothek in der Ausstellung und in diesem Katalog macht allerdings deutlich, dass auch dieser „Riese“ bereits auf den Schultern anderer gestanden hat.

Ich freue mich, dass die Staatsbibliothek mit dem Ausstellungsort, den zahlreichen bedeutenden Handschriften und Drucken aus unserer Sammlung und der Expertise unserer Fachleute ein wesentlicher Teil dieser Kooperation mit dem Max-Planck-
Institut für Wissenschaftsgeschichte und dem Museo Galileo di Firenze sein konnte.

Denkt man an Leonardo da Vinci, folgt prompt der Begriff „Universalgenie“, womit ein hochbegabter Mensch gemeint ist, dessen Intellekt sich flexibel zwischen unterschiedlichen Fachgebieten bewegt und diverse Wissensformen kreativ kombiniert. Das führt dazu, dass das Wort „universal“ auch eine zweite, räumlich-geographische Bedeutung annimmt, die von der ersten abgeleitet ist: Ein Universalgenie wird schnell auch zu einer internationalen, weltweit anerkannten intellektuellen Persönlichkeit, eben weil sein Wirken innovativ und maßgeblich ist.

Als Italienischer Botschafter ist mir diese zweite Bedeutung des Universalgenies Leonardo da Vinci genauso wichtig wie die erste, denn sie hebt die internationale Wirkung dieser historischen Figur hervor. Das wird durch die Ausstellung „Leonardos intellektueller Kosmos“ besonders deutlich: International ist die intellektuelle Konstellation, in der sich Leonardo schon damals bewegte, vom antiken Wissen Griechenlands bis zu seinen Zeitgenossen in ganz Europa.

International bekannt wurden Leonardos Werke und Entdeckungen, die heute in der ganzen Welt bewundert werden, in Mailand und Florenz ebenso wie in Paris, London und St. Petersburg.

International ist auch diese Ausstellung an sich, denn sie ist das Ergebnis internationaler Kooperation, insbesondere zwischen italienischen und deutschen Kultureinrichtungen. Sie basiert auf den Forschungen von Prof. Carlo Vecce von der Università L’Orientale in Neapel und wurde zuerst im Museo Galileo in Florenz eröffnet. Dank dem Engagement des Museo Galileo und seiner Zusammenarbeit mit dem Berliner Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte (MPIWG) begab sie sich jedoch auf Reisen und ist nun auch in der Staatsbibliothek zu Berlin zu sehen. Allen Mitwirkenden sind wir zutiefst dankbar für ihr Engagement in diesen schwierigen Pandemie-Zeiten, in denen alle Formen der internationalen Kooperation im Kulturbereich mit früher undenkbaren Hürden und Einschränkungen konfrontiert sind – erst recht, wenn es um die Organisation einer physischen Ausstellung geht. Unter diesen Umständen ist diese Initiative eine mutige Geste und ein hoffnungsvolles Signal für die Kulturwelt.

Aus diesem Grund bin ich besonders stolz darauf, dass die Italienische Botschaft in Berlin diese Initiative von Anfang an begleitet hat, seit am 10. April 2019 im Rahmen der MPIWG-Tagung „Leonardo da Vinci. An Inquisitive Man: Technologist, Scientist and Artist“ die Berliner Ausstellung für 2020 angekündigt wurde. Aufgrund der Pandemie musste sie auf 2021 verschoben werden. Deswegen findet sie nun im selben Jahr eines anderen wichtigen Jubiläums statt, nämlich des 700. Todestages von Dante Alighieri, einem der großen Meister Leonardos, der sicher in der Bibliothek des „unbelesenen Mannes“ (so verspottete Leonardo sich selbst, weil er kein Latein konnte) vertreten war. Welche historische Figur verkörpert Dantes bekannte Verse aus dem 26. Höllengesang besser als der geniale Autodidakt Leonardo: „Considerate la vostra semenza: Fatti non foste a viver come bruti, / ma per seguir virtute e canoscenza“? („Bedenkt, wozu dies Dasein euch gegeben! Nicht um dem Viehe gleich zu brüten, nein, / Um Wissenschaft und Tugend zu erstreben“ – Übersetzung von Karl Streckfuß). Möge also diese symbolische Staffelstabübergabe ein gutes Omen sein.

„Leonardos intellektueller Kosmos“ besteht nicht nur aus physischen Exponaten – seinen Büchern und Manuskripten sowie der Rekonstruktion seines Arbeitsumfeldes – sondern wird, wenn Originale fehlen, auch mit digitalen Elementen vervollständigt. Mit Hilfe der neuesten Digitalisierungstechnik wurden Leonardos kostbare Manuskripte digitalisiert, mit den ebenfalls digitalisierten Werken seiner Bibliothek verlinkt und einem weltweiten Publikum online und open access zur Verfügung gestellt.

Unter den aktuellen Umständen stellt sich dringend die Frage nach neuen Lösungen für unsere Wissensökonomie. Diese Ausstellung hilft uns bei solchen Überlegungen, denn sie zeigt uns, wie der Bereich der Digital Humanities zur Aufwertung und Verbreitung unseres Wissens beitragen kann, aber auch dass die Expertise von Historikern und Philologen dabei unersetzbar ist. Sie bringt internationale Experten für die florentinische Renaissance und die renommiertesten europäischen Institutionen im Bereich Digital Humanities zusammen. Dieser komplementäre Gebrauch von traditionellen philologischen Methoden einerseits und neuesten digitalen Mitteln andererseits hilft uns nicht nur dabei, die Vergangenheit, in der Leonardo lebte und arbeitete, besser nachzuvollziehen, sondern auch die Gestaltung und Verbreitung unseres Wissens in der Zukunft zu erkennen.

Seit Monaten leben wir in verunsichernden Zeiten, deren Folgen in allen Bereichen zu spüren sind. Archive und Bibliotheken sind von der Pandemie genauso hart getroffen wie Start-ups und Konzerne. Viele sind zurzeit aus gesundheitlichen Gründen gar nicht oder nur eingeschränkt zugänglich. Das verlangsamt oder verhindert sogar die Arbeit vieler Historiker, Philologen, Politologen und Soziologen, die mit ihren Forschungsergebnissen zum öffentlichen Diskurs beitragen. Bleiben ihre wertvollen Beiträge aus, kann das langfristig gravierende Folgen für die öffentliche demokratische Debatte in unseren Ländern haben.

Was aber, wenn dieser Krisenzustand zu einem Ansporn würde, um Probleme zu lösen, die auch schon vor der Pandemie hätten angegangen werden müssen? Dabei sei erwähnt, dass Leonardo selber 1484 in Mailand den Ausbruch der Pest erlebte. Diese Erfahrung veranlasste ihn, über die Verbesserung der Lebensqualität in der Stadt nachzudenken. So entwickelte er das Konzept der ersten Abfallentsorgung für Mailand. In uns vertrauteren Zeiten entstand das Projekt der europäischen Integration aus dem Bewusstsein um die Schrecken des 20. Jahrhunderts. Krisenzeiten waren also schon immer die treibende Kraft für Innovationen. Die renommiertesten Kulturinstitutionen unserer Länder haben den heutigen Innovationsbedarf rechtzeitig erkannt und entsprechende finanzielle Mittel für die Digitalisierung im Kulturbereich zur Verfügung gestellt.

Was hätte das Universalgenie Leonardo da Vinci in einer ähnlichen Lage getan? Das werden wir nie erfahren, und es wäre vermessen, ausgerechnet in diesem höchst wissenschaftlichen Zusammenhang darüber zu spekulieren. Wir können uns allerdings ein Beispiel daran nehmen, wie Leonardo mit den neuen Medien seiner Zeit umging: Damals war der Buchdruck eine noch relativ neue Technologie, die Ende des 15. Jahrhunderts aus Deutschland nach Italien kam, als Leonardo gerade ein junger aufstrebender Künstler in seinen Lehrjahren war. Dank dem Buchdruck wurden Bücher günstiger und erreichbarer. Ohne diese Erfindung hätte Leonardo kaum Zugang zum antiken Wissen und zum Wissen seiner Zeit gehabt, ganz zu schweigen von der Möglichkeit, eine Privatbibliothek mit der damals beeindruckenden Anzahl von etwa 200 Büchern aufzubauen. Er war also das, was wir heute als „print native“ bezeichnen würden. Er zögerte nie, die Chancen der jüngsten technologischen Errungenschaften zu nutzen – und auch mit dieser intellektuellen Einstellung ist er noch heute ein Vorbild für uns.

NOMIS, eine private Schweizer Stiftung, strebt danach, „einen Funken“ in der Welt der Wissenschaft zu erzeugen, indem sie bahnbrechende Forschung in den Natur- und Sozialwissenschaften, sowie in den Geisteswissenschaften ermöglicht, finanziert und unterstützt. Dabei will NOMIS als Katalysator für den wissenschaftlichen und menschlichen Fortschritt dienen, indem die Stiftung interdisziplinäre Forschung fördert, Forschungsnetzwerke und -kooperationen aufbaut und strategische Partnerschaften entwickelt.

Leonardo da Vinci war selbst ein Meister der interdisziplinären Forschung und ein Pionier der gemeinsamen Entwicklung von Wissenschaft, Technik und Kunst. Seine intensive Neugier führte ihn auf eine Vielzahl von ineinandergreifenden intellektuellen Pfaden, während er danach strebte, Verbindungen zwischen allen Aspekten der Natur und unserer menschlichen Existenz herzustellen. Sein Navigieren durch scheinbar disparate Disziplinen war Teil eines lebenslangen persönlichen Strebens, das zu bedeutenden neuen Einsichten in die Natur unserer Welt geführt hat.

Leonardo und sein Werk stehen beispielhaft für die Art von neugiergetriebenen, bahnbrechenden Forschern und neuartigen Untersuchungen, die die NOMIS Foundation inspirieren und antreiben. Die Unterstützung der gemeinsamen Forschungen des Museo Galileo und des Max-Planck-Instituts für Wissenschaftsgeschichte zu Leonardos privater Büchersammlung – einer Sammlung, die als entscheidende Quelle für sein umfangreiches Wissen diente – und ihrer physischen und virtuellen Rekonstruktion war daher eine unwiderstehliche Gelegenheit für NOMIS, um unsere Mission voranzutreiben, neugiergetriebene interdisziplinäre Forschungsbemühungen zu ermöglichen.

Wir freuen uns sehr über das Projekt „Leonardos intellektueller Kosmos“ und über die ausgezeichnete Zusammenarbeit mit dem Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte – einer Institution, die NOMIS‘ hohe Wertschätzung für grundlegende, interdisziplinäre Forschung teilt – sowie mit der Staatsbibliothek zu Berlin und dem Museo Galileo, um nur einige der Institutionen zu nennen, die hinter diesem bemerkenswerten Vorhaben stehen. Während wir gemeinsam Leonardos Rolle in der Wissensgeschichte erforschen, entdecken wir unzählige Verbindungen in der Welt und erkennen die Bedeutung beharrlicher interdisziplinärer Forschung in unserem Streben nach Antworten auf die wichtigen Fragen und Herausforderungen, denen die Menschheit heute gegenübersteht.

Das Team

Nina Bätzing
Sabine Bertram
Esther Chen
Lindy Divarci
Jörg Fischer
Mona Friedrich
Elizabeth Hughes
Marvin Müller
Vivienne Rischke
Yvonne Rischke
Lina Schwab
Dirk Wintergrün