Der Mensch wird von den Alten als kleine Welt bezeichnet und gewiss ist die Wahl dieses Namens wohl angebracht, da, ebenso wie der Mensch aus Erde, Wasser, Luft und Feuer zusammengesetzt ist, dieser Körper der Erde ihm ähnlich ist. Wenn der Mensch in sich Knochen hat, Stütze und Befestigung des Fleisches, hat die Welt Steine als Befestigungen der Erde …
Leonardo da Vinci
Paris Ms. A, fol. 55v. Übersetzung: Marianne Schneider
Bildende Kunst, Wissenschaft und Technik waren im Italien des 15. Jahrhunderts eng miteinander verknüpft. Zugleich waren die einzelnen Disziplinen auch an der Entwicklung eines umfassenderen Weltbildes und der Auslotung der Beziehungen zwischen Makrokosmos und Mikrokosmos beteiligt.
Bei der Betrachtung der Welt im Großen stützte man sich nach wie vor auf die aus der Antike überkommene geozentrische Tradition, in welcher die Erde den Mittelpunkt des Weltalls bildete und von verschiedenen, hierarchisch gestaffelten Sphären umgeben war, von der Sphäre des Wassers bis zur Sphäre der Fixsterne. Durch das ständig vermehrte Wissen, nicht zuletzt durch die von den Entdeckungsreisen beförderten geographischen Einsichten wurde diese Auffassung jedoch zunehmend in Frage gestellt. Ein immer intensiveres Studium der Natur im Allgemeinen und des menschlichen Körpers im Besonderen erweiterten auch die Kenntnis der Welt im Kleinen. Hiervon erhoffte man sich nicht nur Fortschritte in Wissenschaft, Medizin und künstlerischer Darstellung, sondern zugleich ein tieferes Verständnis für die grundlegenden Prinzipien des Lebens. Die Suche nach solcher Naturerkenntnis war ein zentrales Motiv im Schaffen Leonardo da Vincis. Die rasante Entwicklung des Buchdrucks stellte dem Künstler-Wissenschaftler immer mehr Wissensquellen zur Verfügung, die es ihm erlaubten, seiner Suche nach einem integrativen Weltbild nachzugehen. Zugleich war es ihm möglich, dieses Weltbild auch durch eigene Beiträge mitzugestalten: im Kleinen durch seine analytischen Studien des menschlichen Körpers, im Großen durch Landkarten und Darstellungen astronomischer Erscheinungen.
De situ orbis
Übersetzung von Guarinus Veronensis und Gregorius de Tipherno. Venedig: Philippo Pincio, 1510
Alexandri Aphrodisiensis maximi peripatetici, In quatuor libros meteorologicorum Aristotelis, commentatio lucidissima, Alexandro Piccolomineo interprete. Venedig: Scotus, 1548
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Die Abhandlung Tractatus de sphaera oder Sphaera mundi des englischen Astronomen und Mathematikers John of Holywood oder Johannes de Sacrobosco (1195–1256), fasst antikes und mittelalterliches astronomisches Wissen in vier Büchern zusammen und diente bis ins 17. Jahrhundert hinein – in verschiedensten Ausführungen – als Standardlehrbuch der Kosmologie. Leonardo verzeichnet in seinen Bücherlisten von 1495 (3 ▲) und 1503/04 (4 ▲) eine „spera“ bzw. „spera mundi“, bei denen es sich wahrscheinlich um das Werk Sacroboscos handelt. In einer Definition der Sphäre im Codex Atlanticus scheint er sich zudem auf Passagen aus diesem Werk zu beziehen. Die hier aufgeschlagene Doppelseite erläutert das Sphärenmodell mithilfe eines Diagramms: Im Zentrum die Erde, umgeben von den sublunaren Sphären der Elemente (Wasser, Luft, Feuer), gefolgt von den sieben Planetensphären, der Fixsternsphäre und schließlich den äußeren Sphären: dem secundum und primum mobile.
Bambach, Carmen C. 2019. Leonardo da Vinci Rediscovered. Bd. 3: The Late Years 1506–1519. 4 Bde. New Haven / London: Yale University Press, 264.
Hamel, Jürgen. 2014. Studien zur Sphaera des Johannes de Sacrobosco. Leipzig: Akademische Verlagsanstalt (AVA).
Vecce, Carlo, Hrsg. 2019. Leonardo and His Books. The Library of the Universal Genius. Ausstellungskatalog Museo Galileo, Florenz, 6.6.–22.9.2019. Florenz: Giunti, 102, Kat. 8.1.
Wu, Meagan. 2019. In Leonardo’s Library. The World of a Renaissance Reader, herausgegeben von Paula Findlen. Stanford, CA: Stanford Libraries, 163, Kat. 29.