Leonardos intellektueller Kosmos <

Der intellektuelle Kosmos Leonardo da Vincis (1452–1519) scheint ebenso unerschöpflich zu sein, wie die Vielfalt und der kulturelle Reichtum der Renaissance, die er wie nur wenige andere in allen ihren Facetten verkörpert. Seine Neugier und sein schöpferisches Engagement galten allen Wissensbereichen, von den Kräften der Natur im Großen und Kleinen bis in alle Varietäten menschlicher Gestalt und Gestaltung.

Seine Zeit war durch Umbrüche charakterisiert: die Wiederentdeckung der Antike, Aufschwung von Handel und Wissenschaft, die Erfindung des Buchdrucks, die europäische Entdeckung Amerikas und die Anfänge eines neuen astronomischen Weltbildes. Zu den Spannungen seiner Zeit gehörten die zwischen Christentum und wiederbelebter heidnischer Antike, Glauben und Wissenschaft, Bürgertum und Feudalgesellschaft, neuen Technologien und tradierter Gesellschaftsordnung. Zugleich stand die Betonung höchster Individualität der Akteure dem Anspruch ihres Denkens auf Allgemeingültigkeit gegenüber, ebenso wie die Wirkmächtigkeit der Kunst mit den Kräften der Natur in Wettstreit trat. Zerreißende Erfahrungen aus Kriegen, Krisen und Krankheiten wie der Pest kamen hinzu, aber auch die Herausforderung durch die neuen Möglichkeiten des Denkens, Glaubens und Handelns.

Leonardo und andere Künstler, Wissenschaftler-Ingenieure und Humanisten seiner Zeit rangen in ihren Werken um eine Balance solcher Spannungen, allerdings nicht um den Preis ihrer Verflachung oder einseitigen Auflösung. Vielmehr gelang es ihnen in vielfältiger Weise, diesen Spannungen in ihrem Schaffen Ausdruck zu verleihen und sie produktiv zu wenden. Die Bereitschaft Widersprüche nicht zu unterschlagen, sondern in einem ständigen Dialog mit sich selbst und anderen auszufechten, galt als Tugend. Auch Leonardos intellektueller Kosmos war durch Gegensätze geprägt, etwa durch seine Suche nach der strukturellen Harmonie der Welt und seine Bereitschaft, diese Harmonie in einer unabschließbaren Vielfalt von Einzelheiten zu finden, denen er jeweils seine ganze Aufmerksamkeit und sein ganzes Können widmete.

Auch den viel diskutierten Gegensatz zwischen neuer Naturbeobachtung und traditioneller Büchergelehrsamkeit löste Leonardo nicht einseitig auf, sondern machte sich beides engagiert zu eigen. Leonardo nahm die Vielfältigkeit der Natur wahr wie kaum jemand vor ihm, und nutzte zugleich das neue Medium des Buchdrucks, um sich eine einzigartige Bibliothek aufzubauen, die seinen individuellen Blick auf die Welt prägte und ihm entsprach.

Leonardos Bibliothek konnte weitgehend aus seinen Manuskriptnotizen rekonstruiert werden. Sie war einzigartig und doch zugleich reproduzierbar. Das macht auch diese Ausstellung deutlich, die einige Werke aus seiner Bibliothek versammelt, allerdings nicht seine persönlichen Exemplare, die – möglicherweise bis auf eine Ausnahme nicht überliefert sind. Die Berliner Leonardo-Bibliothek“ konnte vielmehr aus zeitgenössischen Werken bestückt werden, die aus Beständen der Berliner Bibliotheken stammen, insbesondere der Staatsbibliothek zu Berlin, außerdem der Kunstbibliothek und dem Kupferstichkabinett der Staatlichen Museen und nicht zuletzt der Bibliothek des Max-Planck-Instituts für Wissenschaftsgeschichte, das sich seit einem Vierteljahrhundert mit den Umbrüchen der Frühen Neuzeit und ihren Konsequenzen bis heute beschäftigt. Die von uns zusammengetragenen Exemplare bezeugen jene durch Buchdruck und Buchzirkulation beschleunigte Verbreitung von Wissen, die auch Leonardos intellektuellen Kosmos erst ermöglicht hat.

Leonardo wuchs in einer noch jungen, faszinierenden Welt der Bücher auf, in denen das zeitgenössische Wissen auf neue Weise zirkulieren und aus wechselnden Perspektiven kombiniert werden konnte. Er selbst hatte ehrgeizige Pläne als Autor. Doch der vorläufige und oft skizzenhafte Charakter der Manuskripte, in denen er der Nachwelt die Spuren seines umfassenden Wirkens hinterlassen hat, steht im Kontrast zu der geschlossenen Darstellungsform der Bücher, die er anstrebte, aber kaum jemals erreichte.

Die Ausstellung zeigt diese Welt in einem Umbruch der Medien, im Übergang zu einer neuen Wissensökonomie, im Ringen um ein neues Weltverständnis. Welche Bücher haben Leonardos intellektuellen Kosmos geprägt? Wie hat er mit seinen Büchern gearbeitet? Was ist aus seinen Plänen, eigene Bücher zu schreiben und auch zu publizieren, geworden? Warum war es für ihn so schwierig, seine Gedanken in Buchform zu bringen? Was ist beim Übergang von der Manuskriptwelt mit ihrer Vielfalt an Formen bei Leonardo oft ein komplexes Gewebe von Einzelnotizen in die Buchwelt verloren gegangen, und was bedeutet dieser Verlust für unsere heutige Welt und ihren Umgang mit neuen Medien und Wissensökonomien?

Die Ausstellung widersteht der Versuchung, Leonardo als Vorläufer, etwa der modernen Wissenschaft und Technik, einzuordnen, sondern sucht in seinem intellektuellen Kosmos einen fernen Spiegel unserer eigenen Umbruchszeit. Was wir darin, mit den Augen Leonardos, entdecken können, sind nicht nur unzählige unabgeschlossene Projekte, sondern auch die noch unentschiedenen Möglichkeiten, die Welt so oder anders zu verstehen und zu gestalten. Gerade der Blick auf die Offenheit seines Werks bietet die Chance, darin auch Anregung für Balancen zu finden, die den Spannungen und Widersprüchen unserer eigenen Zeit gerecht werden.

 

 

 

Jürgen Renn

 

 

Leonardos „Berliner Bibliothek“

Die Berliner Bibliothek“ Leonardos ist die materielle Präsentation einer verlorenen historischen Büchersammlung. Von früheren Rekonstruktionen, die in den letzten 150 Jahren konzipiert, beschrieben und dem Publikum weltweit an unterschiedlichen Orten gezeigt wurden, unterscheidet sie sich durch ihren spezifischen Berliner Fokus.

Ausgangspunkt für jede Rekonstruktion von Leonardos Bibliothek, die sich erheblich von zeitgenössischen Künstler- und Privatbibliotheken seinesgleichen abhebt, sind seine Schriften. Seine zahlreichen Notizbücher, die Codices, enthalten vielfältige Hinweise auf Bücher, Autoren und Titel: Er zitiert, exzerpiert und kopiert ganze Passagen. Grundlage für die Rekonstruktion seines persönlichen Buchbestands sind jedoch vor allem seine in ihrem Umfang sehr unterschiedlichen – Bücherlisten:

 

   Codex Trivulzianus, fol. 2r (1487–1490)

   Codex Atlanticus, fol. 559r (ca. 1495)

   Codex Madrid II, fol. 2v–3v (ca. 1503–1504)

 

Die Funktionen dieser Listen sind nicht in allen Fällen eindeutig zu bestimmen: Sind es Lektürenachweise? Erinnerungen an geplante Anschaffungen? Oder doch Bestandsaufnahmen im Sinne einer Revision? Zumindest für die umfangreicheren Aufstellungen dürfte letzteres gelten. Titel wie Vermerk der Bücher, die ich in der Truhe eingeschlossen habe“ oder In der Kiste im Kloster“ legen eine Entstehung im Zusammenhang mit einer Reise oder einem Umzug nahe.

Auch handelt es sich nicht um Kataloge im heutigen Sinn, sondern um Notizen und Gedächtnishilfen, die wohl ausschließlich für den privaten Gebrauch des Besitzers (und vielleicht seines nächsten Umfeldes) bestimmt waren. Und genau hier beginnen die Herausforderungen für die moderne Interpretation.

 

Annäherung an eine historische“ Bibliothek

Gestützt auf den aktuellen Forschungsstand, galt es zunächst die Spiegelschrift Leonardos zu transkribieren, die einzelnen Einträge möglichst wörtlich zu übersetzen und ihnen konkrete Buchtitel zuzuweisen. Nicht immer sind hierbei eindeutige Zuordnungen möglich: So lässt sich Leonardos Notiz clonica del mondo“ (Chronik der Welt) sowohl mit Giacomo F. Forestis Supplementum chronicarum als auch mit Hartmann Schedels Liber chronicarum assoziieren. In der Ausstellung sind deshalb beide in den Editionen Venedig 1486 und Nürnberg 1493 vertreten. Mit der zweifelsfreien Zuweisung eines Titels ist jedoch längst nicht immer geklärt, um welche Ausgabe es sich handelt (gedruckt oder handschriftlich, vollständig oder in Auszügen?). Andererseits entziehen sich so unspezifische Angaben wie prediche“ (Predigten) schlichtweg jeglicher Identifikation und einzelne Einträge wiederholen sich, bisweilen auch mehrfach.

 

Bestückung der Berliner“ Leonardo-Bibliothek

Die materielle Rekonstruktion der Berliner Bibliothek Leonardos erwächst aus der Untersuchung der lokalen Bibliotheksbestände und vor dem Hintergrund der ortsspezifischen Rahmenbedingungen mit möglichen Fällen von Kriegsverlust oder defizitären Erhaltungszuständen. Deshalb führte die Zuweisung von ausstellbaren Editionen eine Arbeit, die in der Anfangsphase entscheidende Impulse durch die Expertise von Carlo Vecce erhielt bisweilen zu gewissen Abweichungen oder sogar Anachronismen in Bezug auf Leonardos historische“ Bibliothek.

 

Erweiterung und Kontextualisierung

Der verbürgte Kern (oder „Korpus) von Leonardos Bibliothek wurde somit für den Berliner Standort um Neuzugänge“ erweitert, also um Titel, die nicht eindeutig in seinen Bücherlisten nachgewiesen sind. Dieses Verfahren erschien uns insbesondere in den folgenden drei Fällen gerechtfertigt:

 

1.  Leonardo rezipierte nachweislich bestimmte Werke, ohne dass sie in den Listen auftauchen. Beispiele sind Dantes Göttliche Komödie und Vitruvs De architectura. Ähnliches gilt für Luca Paciolis Divina proportione, ein Werk, an dem er selbst beteiligt war und das hier gewissermaßen als „Belegexemplar“ vertreten ist.

2.  In Berlin stand keine geeignete Edition des identifizierten Werkes zur Verfügung, an seine Stelle trat ein Stellvertreter. So steht etwa eine Miscellanea-Handschrift des 13. Jahrhunderts, die neben Texten des Euklid auch solche von Jordanus Nemorarius, Archimedes und Alfraganus (u.a.) enthält, stellvertretend für Leonardos (vielleicht ebenfalls auf eine Handschrift bezogenen) Vermerk euclide vulgare c[i]oè ep[rim]i libri 3“ (Euklid in Volkssprache nur die erste 3 Bücher).

3.  r das Verständnis und die Kontextualisierung von Leonardos intellektuellem Kosmos erschien es zudem ratsam, die Sammlung um bestimmte Titel zu ergänzen, die einen nordalpinen Bezug herstellen oder die nicht mehr zu Lebzeiten Leonardos erschienen sind. Ein Beispiel für diese gleichsam anachronistischen Fernleihen“ re der General trattato di numeri, et misure von Niccolò Tartaglia, erstmals gedruckt 1556, also 37 Jahren nach Leonardos Tod, aber besonders geeignet, die mathematische Ausbildung kaufmännischer Art zu veranschaulichen, die er in seiner Jugend erhalten hatte.

 

Auf diese Arbeiten folgte schließlich die Anordnung der ausgewählten Buchexemplare entsprechend den zehn Sektionen unserer Ausstellung, die inhaltliche Facetten und die allmähliche Entwicklung von Leonardos intellektuellem Kosmos veranschaulichen sollen.

 

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