World History and Natural History <

From the mountain that bears the name of the great bird, the famous bird will take flight, filling the world with its great glory
Leonardo da Vinci
Codex on the Flight of Birds, fol. 18v. Translation: Elizabeth Hughes

 

 

Der Kanon antiker Werke diente Künstlern (und Gelehrten) wie Leonardo da Vinci und seinen Zeitgenossen als Anregung für die praktische künstlerische Gestaltung und für die eigene literarische Produktion. Sie orientierten sich dabei an unterschiedlichen Textgattungen – von dichterischen, philosophischen oder wissenschaftlichen Werken bis hin zu technischen Abhandlungen. Antike Autoren prägten jedoch auch allgemein die Naturauffassung und das Menschenbild des 15. Jahrhunderts. Zu den grundlegenden Texten für das neue Natur- und Zivilisationsverständnis zählten die Metamorphosen des römischen Dichters Ovid (43 v. Chr.–17 n. Chr.) – eine der bedeutendsten nichtchristlichen Quellen der Kunst- und Literaturgeschichte, deren Einfluss weit über die Zeit Leonardos hinausreichte. Als besonders prägend erwies sich Ovids (auf Hesiod fußendes) Konzept der historischen Periodisierung in vier Weltzeitalter. In seine poetischen Erzählungen von der Verwandlungsmacht der Leidenschaften, dargestellt anhand der Transformation mythologischer Gestalten in Naturphänomene, in Pflanzen, Tiere und sogar Sternbilder, fließen suggestive Naturschilderungen mit ein. Zugleich bildeten die Metamorphosen ein wichtiges Kompendium antiker Mythologie und der poetischen Antizipation zivilisatorischer Verwandlungsprozesse.
Eine bedeutende Wiederentdeckung des 15. Jahrhunderts war das Weltgedicht De rerum natura des römischen Philosophen Lukrez (ca. 99/94–ca. 55/53 v. Chr.), eines wichtigen Vertreters des Atomismus. Mit seiner Kritik an der Todesfurcht als Wurzel aller Religion fußt es auf der Naturphilosophie des Griechen Epikur und seiner Lehre von den Atomen und steht damit in denkbar großem Widerspruch zur traditionellen christlichen Lehre, setzt sich aber mit der Utopie „ewiger Bündnisse“ auch von der resignativen Betonung Epikurs der Vergänglichkeit des Seins ab. 
Im Weltbild Leonardos und seiner Zeitgenossen verbanden sich die großen Geschichtserzählungen der antiken und christlichen Tradition. Natur-, Welt- und Heilsgeschichte bildeten eine vielschichtige Gesamterzählung. Die hierbei aufgeworfenen grundsätzlichen Fragen betrafen die Stellung des Menschen in der Natur, das Wesen der Zeit und das Verhältnis von Vergänglichkeit und Erlösung.
In seiner Bibliothek versammelte Leonardo nach und nach die kanonischen Werke der antiken Naturgeschichte. In seinen eigenen Zeichnungen und Schriften fanden sie ihren Widerhall. Wandlungsprozesse und Bündnisfähigkeit der Natur, wie sie in den Dichtungen von Ovid und Lukrez thematisiert werden, bestimmten auch Leonardos naturhistorisches Weltbild und sein Verständnis vom Schicksal des Menschen. Dabei liegt der Fokus für ihn immer auf den Bewegungsformen der Lebewesen und Dinge und – im Großen wie im Kleinen – auf den Transformationsprozessen der Natur.

 

Leonardo's Berlin Library: Section 6 <

53.
Foresti, Giacomo Filippo.

Supplementum chronicarum

Venice: Bernardinus Benalius, 1486

The Supplementum Chronicarum by the Augustine monk Giacomo Filippo Foresti (1434–1520), who originated from Bergamo, is a compilation of the history of the world drawn from different sources and traditions. The book is richly illustrated. The page shown here, with the vision of the divine Creation, is particularly impressive. The accompanying text is based on the biblical history of Genesis but at this point does not explicitly mention the creation of human beings on the sixth day. The illustration, however, follows the established Christian tradition for depicting this scene and focuses on the creation of Eve. Aside from biblical scenes, the work primarily contains a large array of “portraits” of famous cities like Rome and Venice. In 1495 Leonardo bought a “Cronica” (Codex Atlanticus, f. 288r) in Milan for 68 soldi; this could refer to one of two works, either Foresti’s Supplementum Chronicarum or the Schedelsche Weltchronik (54 ).

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References

    Fenech, Nicholas. 2019. In Leonardo’s Library. The World of a Renaissance Reader, edited by Paula Findlen. Stanford, CA: Stanford Libraries, 166,
    no. 33.

     

    Krümmel, Achim. 1992. Das “Supplementum chronicarum” des Augustinermönches Jacobus Philippus Foresti von Bergamo. Eine der ältesten Bilderchroniken und ihre Wirkungsgeschichte. Bibliothemata 6. Herzberg: Traugott Bautz.

     

    Vecce, Carlo, ed. 2019. Leonardo and His Books. The Library of the Universal Genius. Exhibition catalogue Museo Galileo, Florence, 6.6.–22.9.2019. Florence: Giunti, 107, no. 9.1.