Epilog: die Codices <

Und dies sei eine Sammlung ohne Ordnung, zusammengestellt aus vielen Papieren, die ich hier kopiert habe in der Hoffnung, sie an ihren jeweiligen Orten in eine Ordnung zu bringen, die den Gegenständen entspricht, von denen sie handeln …

Leonardo da Vinci

Codex Arundel, fol. 1r. Übersetzung: Jürgen Renn

 

 

Der überlieferte schriftliche Nachlass Leonardos umfasst mehr als 4.000 Blätter; insgesamt 22nde von illustrierten Manuskripten, meist als Codices bezeichnet, sind heute erhalten. Das Material ist dabei überaus heterogen: Neben Skizzenbüchern im Taschenformat mit Vor-Ort-Notizen für den reinen Eigengebrauch existieren großformatige Reinschriften, die sich bereits an ein Publikum zu richten scheinen. Gemeinsam ist den Bänden die thematische Vielfalt und alle zeigen die Spuren fortwährender Benutzung und Überarbeitung. Bei seinem Tod hinterließ Leonardo die Bände seinem Mitarbeiter und Erben Francesco Melzi (1491/92– 1567). Dessen Erben wiederum verkauften einen großen Teil an den Bildhauer Pompeo Leoni (ca. 1533–1608). Einige dieser Manuskripte wurden 1637 von dem Sammler Galeazzo Arconati (vor 15921649) an die Biblioteca Ambrosiana in Mailand geschenkt. Sie gelangten schließlich als Kriegsbeute Napoleons nach Paris, wo sie noch heute aufbewahrt werden glücklicherweise überwiegend in ihrer ursprünglichen Bindung. Andere Codices nahmen wenn auch unter ähnlich dramatischen Umständen – gänzlich andere Wege.

 

 

Atlanticus, zerstreut <

 

Der erst seit dem 18. Jahrhundert wegen seines großen, Atlas-ähnlichen Formates so bezeichnete Codex Atlanticus (Biblioteca Ambrosiana, Mailand) ist das früheste Sammleralbum mit Zeichnungen und Notizen Leonardos. Der Bildhauer Pompeo Leoni, der auch einen großen Teil von Leonardos gebundenen Manuskripten erworben hatte, stellte es aus mehr als 1700 einzelnen Zeichnungen und Blättern unterschiedlicher Größe und Entstehungszeit (von 1478 bis 1518) zusammen, die er auf riesige Bögen aufklebte. Der Titel des ursprünglichen Ledereinbandes lautet übersetzt: „Zeichnungen von Maschinen und geheimen Künsten und anderen Dingen des Leonardo da Vinci“. Nach mehreren Restaurierungskampagnen wurde das Album 2008/09 schließlich endgültig aufgelöst. Heutigen konservatorischen Standards entsprechend werden die Zeichnungen seitdem einzeln in Passepartouts aufbewahrt.

Literatur

 

 

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Leonardo da Vinci. Baukran für Kanalaushub. 1503–1504

11.02.03.01 - l

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Epilog

Leonardo gelang es selten, seine Werke zum Abschluss zu bringen, etwa sein Gemälde der Schlacht von Anghiari, seinen Traktat über die Malerei oder ein geplantes Buch über Mechanik. Vieles blieb bloßes Experiment, sei es in der Technik der Malerei, in seiner Tätigkeit als Bildhauer oder Architekt, oder auch in seinen mathematischen Bestrebungen. Anderes wiederum ist ihm derart genial gelungen man denke an seine Beobachtungen der Turbulenz oder seine Zeichnungen komplexer technischer Zusammenhänge , dass es der unmittelbaren Nachwelt praktisch unmöglich war, seinem Beispiel zu folgen. Dennoch haben viele seiner Ideen und Anregungen ob in Kunst oder Wissenschaft langfristig weitergewirkt, wenn auch oft auf verschlungenen Wegen.

Die Grenzen seiner Fähigkeiten als Autor müssen Leonardo täglich bewusst gewesen sein, etwa wenn man seine eigenen schriftstellerischen Versuche mit den Werken von eisiger Eleganz eines Leon Battista Alberti vergleicht. Auf der anderen Seite besaß Leonardo ein einzigartiges Auge und eine kaum zu überbietende Neugierde. Für ihn war der Weg oft wichtiger als das Ziel, der Schaffensprozess aufschlussreicher als sein Resultat. Dennoch hat er danach gestrebt, selbst zum Autor zu werden und sich zum Beispiel sorgsam darum bemüht, vorläufige Skizzen in einem Manuskript in einem anderen, für die Veröffentlichung bestimmten Text weiter auszuarbeiten.

Leonardos Notizbücher spiegeln das komplexe Geflecht seiner Gedanken in einer Weise, die eher der Hypertext-Struktur des heutigen Webs entspricht als der damaligen Buchwelt. Die Notizbücher bildeten eine eigene Bibliothek in seiner Bibliothek er hat sie ebenso wie seine Bücher auf Reisen und auf seinem Lebensweg mitgenommen. Seine Manuskripte nahmen auf eine paradoxe Weise an der beschleunigten Diffusion des Wissens in der Frühen Neuzeit teil. Während nur ein einziges Werk von ihm posthum gedruckt wird, werden seine Manuskripte in alle Winde zerstreut. Wer hat sie gelesen und wen haben sie inspiriert? Wer hat sie neu zusammengefügt?

Andere haben nach ihm danach gestrebt, seine Notizen in Bücher zu fassen, von seinem Traktat über die Malerei bis zu den heutigen Ausgaben seines Werks. Die Überlieferung seiner Manuskripte in verschiedenen Codices hat seine Hinterlassenschaft geprägt. Vor dem Hintergrund ihrer äußerst komplexen Rezeptionsgeschichte entstand der Mythos Leonardo, der uns bis heute den Blick auf die Wurzeln seines Werks in der großen Beschleunigung des 15. Jahrhunderts verstellt aber auch ihre Bedeutung als ferner Spiegel unserer heutigen Welt im Umbruch. Was hat das Genie Leonardo aus dem kollektiven Wissen seiner Zeit geschöpft, wie genau hat sein Werk weitergewirkt und was können wir heute noch aus seinem Umgang mit den Herausforderungen seiner Zeit lernen? Das sind die eigentlichen Rätsel des da Vinci Codes, der seinem intellektuellen Kosmos eingeschrieben ist.

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