Ich weiß wohl, manch Anmaßender wird glauben, er könne mich, da ich nicht Lateinisch kann, mit Recht tadeln, indem er anführt, ich sei kein gelehrter Mann. Törichte Leute!
Leonardo da Vinci
Codex Atlanticus, fol. 327v. Übersetzung: Marianne Schneider
Leonardo dürfte kaum Schwierigkeiten gehabt haben, sich die religiöse und literarische Überlieferung seiner Zeit in der Volkssprache anzueignen. Dies wurde als intellektuelle Sozialisation eines Sohnes aus dem Florentiner Bürgertum und eines jungen Künstlers, der in einer der angesehensten Werkstätten der Stadt ausgebildet worden war, gewissermaßen erwartet. Weitaus schwieriger war es hingegen, sich darüber hinaus sozial anders konnotierte Wissensfelder zu erschließen. Der Zugang zur Hochkultur war in den städtischen und höfischen Gesellschaften denen vorbehalten, die ein traditionelles Studium in Form eines geregelten Curriculum absolviert hatten. Das Beherrschen der lateinischen Sprache war unerlässlich für die Aneignung der wissenschaftlichen und literarischen Kultur der Antike. Insbesondere im kultivierten Umfeld des Mailänder Hofes wurde sich Leonardo seiner Defizite bewusst und er unternahm große Anstrengungen, sich entsprechend weiterzubilden. Neben dem Selbststudium der lateinischen Sprache zählte hierzu auch das Beherrschen aktueller literarischer Formen, etwa für die Konversation und schriftliche Korrespondenz, sowie die ständige Erweiterung des eigenen Vokabulars, etwa durch technische und literarische Ausdrücke. Auch die Erfindung gewitzter künstlerischer Sujets, wie sie im höfischen Milieu beliebt waren, erforderte eine gewisse Vertrautheit mit klassischen Bildungsinhalten. Die zunehmende Vielfalt der Interessensgebiete und Arbeitsfelder lässt sich auch in Leonardos Bibliothek ablesen. Ermöglicht wurde diese immer auch eng mit der eigenen Laufbahn verknüpfte intellektuelle Entwicklung nicht zuletzt durch den rasch an Bedeutung gewinnenden Buchdruck, der Werke billiger und leichter verfügbar machte.
46. Stultifera navis [Narrenschiff] Übersetzung von Jakob Locher. Lyon: Jacques Sacon, 1488 [1498] |
Das Narrenschiff des Basler Humanisten Sebastian Brant (1457/58–1521), eines der auflagenstärksten Bücher der Frühen Neuzeit, erschien erstmals 1494 in Basel. Bereits drei Jahre später folgte die lateinische Übersetzung von Jakob Locher, die sich schnell zu einem internationalen Bestseller entwickelte. Auch Leonardo, dessen Vorliebe für satirische Literatur bekannt ist, besaß ein Exemplar. Die Moralsatire stellt in mehr als 100 Kapiteln unterschiedliche Torheiten der Zeit vor. Die reiche Bebilderung durch Holzschnitte dürfte nicht unwesentlich zu ihrem Erfolg beigetragen haben. Einige der Illustrationen wurden dem jungen Albrecht Dürer zugeschrieben. Hier ist die Schiffsreise der Narren in das Königreich Narragonien am Anfang des Werkes gezeigt.
Brant, Sebastian. 2004. Das Narrenschiff. Nach der Erstausgabe (Basel 1494) mit den Zusätzen der Ausgaben von 1495 und 1499 sowie den Holzschnitten der deutschen Originalausgaben. Herausgegeben von Manfred Lemmer. 4., erw. Aufl. Tübingen: Niemeyer.
Idem. 2005. Das Narrenschiff. Herausgegeben von Joachim Knape. Reclams Universalbibliothek. Stuttgart: Reclam.
Rupp, Michael. 2002. Narrenschiff und Stultifera navis. Deutsche und lateinische Moralsatire von Sebastian Brant und Jakob Locher in Basel 1494–1498. Münster u.a.: Waxmann.
Wu, Meagan. 2019. In Leonardo’s Library. The World of a Renaissance Reader, herausgegeben von Paula Findlen. Stanford, CA: Stanford Libraries, 165,
Kat. 31.