Welt- und Naturgeschichten <

Von dem Berg aus, der den Namen des großen Vogels trägt, wird der berühmte Vogel seinen Flug aufnehmen, der die Welt mit seinem großen Ruhm erfüllen wird

Leonardo da Vinci

Codex über den Vogelflug, fol. 18v. Übersetzung: Jürgen Renn

 

 

Der Kanon antiker Werke diente Künstlern (und Gelehrten) wie Leonardo da Vinci und seinen Zeitgenossen als Anregung für die praktische künstlerische Gestaltung und für die eigene literarische Produktion. Sie orientierten sich dabei an unterschiedlichen Textgattungen – von dichterischen, philosophischen oder wissenschaftlichen Werken bis hin zu technischen Abhandlungen. Antike Autoren prägten jedoch auch allgemein die Naturauffassung und das Menschenbild des 15. Jahrhunderts. Zu den grundlegenden Texten für das neue Natur- und Zivilisationsverständnis zählten die Metamorphosen des römischen Dichters Ovid (43 v. Chr.–17 n. Chr.) – eine der bedeutendsten nichtchristlichen Quellen der Kunst- und Literaturgeschichte, deren Einfluss weit über die Zeit Leonardos hinausreichte. Als besonders prägend erwies sich Ovids (auf Hesiod fußendes) Konzept der historischen Periodisierung in vier Weltzeitalter. In seine poetischen Erzählungen von der Verwandlungsmacht der Leidenschaften, dargestellt anhand der Transformation mythologischer Gestalten in Naturphänomene, in Pflanzen, Tiere und sogar Sternbilder, fließen suggestive Naturschilderungen mit ein. Zugleich bildeten die Metamorphosen ein wichtiges Kompendium antiker Mythologie und der poetischen Antizipation zivilisatorischer Verwandlungsprozesse.
Eine bedeutende Wiederentdeckung des 15. Jahrhunderts war das Weltgedicht De rerum natura des römischen Philosophen Lukrez (ca. 99/94–ca. 55/53 v. Chr.), eines wichtigen Vertreters des Atomismus. Mit seiner Kritik an der Todesfurcht als Wurzel aller Religion fußt es auf der Naturphilosophie des Griechen Epikur und seiner Lehre von den Atomen und steht damit in denkbar großem Widerspruch zur traditionellen christlichen Lehre, setzt sich aber mit der Utopie „ewiger Bündnisse“ auch von der resignativen Betonung Epikurs der Vergänglichkeit des Seins ab. 
Im Weltbild Leonardos und seiner Zeitgenossen verbanden sich die großen Geschichtserzählungen der antiken und christlichen Tradition. Natur-, Welt- und Heilsgeschichte bildeten eine vielschichtige Gesamterzählung. Die hierbei aufgeworfenen grundsätzlichen Fragen betrafen die Stellung des Menschen in der Natur, das Wesen der Zeit und das Verhältnis von Vergänglichkeit und Erlösung.
In seiner Bibliothek versammelte Leonardo nach und nach die kanonischen Werke der antiken Naturgeschichte. In seinen eigenen Zeichnungen und Schriften fanden sie ihren Widerhall. Wandlungsprozesse und Bündnisfähigkeit der Natur, wie sie in den Dichtungen von Ovid und Lukrez thematisiert werden, bestimmten auch Leonardos naturhistorisches Weltbild und sein Verständnis vom Schicksal des Menschen. Dabei liegt der Fokus für ihn immer auf den Bewegungsformen der Lebewesen und Dinge und – im Großen wie im Kleinen – auf den Transformationsprozessen der Natur.

Leonardos Berliner Bibliothek – 6. Abteilung <

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Lucretius Carus, Titus. De rerum natura. Herausgegeben von Hieronymus Avantius.
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
Venedig: Aldus Manutius. 1500

In einer deutschen Klosterbibliothek hatte der Humanist Poggio Bracciolini 1417 Lukrez’ Lehrgedicht über die Natur der Dinge wiederentdeckt. Eine erste, wenn auch seltene Druckausgabe erschien 1473, weitere folgten. Vor allem in Florentiner Humanisten-Zirkeln wurde die komplexe Dichtung, die den göttlichen Schöpfungsakt negiert und die ewige Wandlungsfähigkeit aller Dinge propagiert, als Herausforderung des auf Heilserwartung ausgerichteten christlichen Geschichtsbildes diskutiert. Leonardo formuliert seine eigene von der Bündnisfähigkeit der Natur bestimmte Weltsicht auch auf der Grundlage von Lukrez’ Gedankengut. Dabei macht er sich vor allem dessen Konzept des Atomismus zu eigen und überträgt den Lukrez’schen Begriff der semina rerum (=Samen der Dinge, gemeint sind die Atome) als „semenze“ (Codex Atlanticus, fol. 207v). Im hier aufgeschlagenen ersten Buch besingt Lukrez die Venus Genetrix als Spenderin allen Lebens.

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Literaturverweise

    Beretta, Marco. 2009. „Leonardo and Lucretius“. Rinascimento 49: 341–372.

    Brown, Alison. 2010. The Return of Lucretius to Renaissance Florence. I Tatti Studies in Italian Renaissance History. Cambridge, Mass.: Harvard University Press.

    Norbrook, David, Stephen J. Harrison, und Philip R. Hardie, Hrsg. 2016. Lucretius and the Early Modern. Oxford: Oxford University Press.

    Ochoa, Rachel. 2019. In Leonardos Library. The World of a Renaissance Reader, herausgegeben von Paula Findlen. Stanford, CA: Stanford Libraries, 153, Kat. 15.