Der Maler, der etwas nur nach der Praxis und dem Urteil des Auges ohne Vernunft abbildet, ist wie der Spiegel, der alle die ihm gegenüber gestellten Dinge imitiert, ohne sie zu erkennen
Leonardo da Vinci
Codex Atlanticus, fol. 207r. Übersetzung: Jürgen Renn
Die vielfältigen technischen Aufgaben, wie sie Leonardo im Dienst der Sforza zu bewältigen hatte, waren eng mit wissenschaftlichen Problemen und Herausforderungen verbunden. Aber auch die Ausübung der Bildkünste, insbesondere der Malerei, erforderte – zumal im kultivierten Kontext des Hofes – zunehmend theoretische Kenntnisse und vielfältige Expertise. Diese reichte von Fragen der Optik und mathematischen Perspektivkonstruktion bis hin zu mechanischen Problemstellungen und medizinischen Kenntnissen. Zu all diesen Disziplinen existierten grundlegende Werke antiker Autoren, aber auch mittelalterliche und zunehmend neuere Abhandlungen, die sich Leonardo nun systematisch anzueignen versuchte. Er erweiterte seine Bibliothek durch wissenschaftliche Fachliteratur und trieb zugleich seine Bemühungen, Latein zu lernen und seine mathematischen Kenntnisse zu vertiefen, mit großem Ehrgeiz voran. Dies ermöglichte ihm schließlich, selbst neue wissenschaftliche Einsichten zu formulieren. Er war nun seinerseits ein „Autor“ wissenschaftlicher Werke geworden. Auch andere Künstler-Wissenschaftler von Leon Battista Alberti (1404–1472) und Piero della Francesca (ca. 1420–1492) bis hin zu Albrecht Dürer (1471–1528) suchten die seinerzeit noch als rein praktisches Handwerk geltende Malerei auf eine wissenschaftliche Grundlage zu stellen. Leonardo ging noch einen Schritt weiter und erhob die Malerei selbst zur Wissenschaft.
80. Melencolia I 1514 |
Dieser wohl berühmteste Kupferstich Dürers widmet sich als enigmatisches „Denkbild“ der Melancholie, jenem mit dem Planetengott Saturn in Verbindung gebrachten Temperament, dem traditionell auch die Künstler zugerechnet werden. Untätig und dennoch höchst konzentriert den Kopf in die eigene Faust stützend, grübelt die Personifikation der Schwermut vor sich hin. Das Buch in ihrem Schoß und der Stechzirkel in ihrer Hand bleiben ebenso unbenutzt wie all die übrigen rätselhaften Gegenstände, die sie umgeben. Vor einem durch kosmische Phänomene erleuchteten Nachthimmel präsentiert die Fledermaus den Bildtitel. Während ein Teil der mit einer eigentümlichen Nachlässigkeit verstreuten Werkzeuge zu handwerklicher Tätigkeit geradezu aufruft, erinnern Zirkel und Richtscheit (76 ■) sowie weitere Instrumente wie Waage und Sanduhr an Dürers Glauben an Maß und Zahl als Grundlage aller Kunst. Auf inhärente mathematische Gesetzmäßigkeiten verweisen auch geometrische Körper wie Kugel und Rhomboeder sowie das magische Zahlenquadrat an der Wand.
Böhme, Hartmut. 1989. Albrecht Dürer. Melencolia I. Im Labyrinth der Deutung. Frankfurt a. M.: Fischer.
Klibansky, Raymond, Erwin Panofsky, und Fritz Saxl. 1990. Saturn und Melancholie. Studien zur Geschichte der Naturphilosophie und Medizin, der Religion und der Kunst. (1. Ausgabe 1964). Frankfurt a. M.: Suhrkamp.
Schuster, Peter-Klaus. 1991. Melencolia I. Dürers Denkbild. 2 Bde. Berlin: Gebr. Mann.