Dass ich so genau über den Milan schreibe, muss mir vom Schicksal bestimmt sein, denn in der ersten Erinnerung aus meiner Kindheit schien es mir, als wäre, während ich in der Wiege lag, ein Milan zu mir gekommen und hätte mir mit seinem Schwanz den Mund geöffnet und mich mit diesem Schwanz oftmals innen an die Lippen geschlagen.
Leonardo da Vinci
Codex Atlanticus, 186v. Übersetzung: Marianne Schneider
Leonardo war der uneheliche Sohn des Notars Ser Piero di Antonio da Vinci (1427–1504) und einer Bauerntochter namens Caterina. Erzogen wurde er zunächst fern von der Metropole Florenz im Haus seines Großvaters Antonio (gest. 1464) väterlicherseits in der ländlichen Umgebung von Vinci. Dies mag seine Eigeninitiative und letztlich seinen unabhängigen Geist gefördert haben.
Zur kulturellen Bildung der damals breiten Kaufmanns- und Notarschicht zählten neben religiösem Grundwissen und Kenntnissen der literarischen Klassiker in der italienischen Volkssprache vor allem die praktische Beherrschung der für die kaufmännische Buchhaltung notwendigen Rechentechniken. Die Familien besaßen in der Regel kleine, rund ein Dutzend Bücher umfassende Bibliotheken, die von Generation zu Generation weitervererbt wurden. Zum typischen Bestand zählten eine – oft italienische – Ausgabe der Bibel sowie andere religiöse Werke (Sammlungen von Heiligenlegenden, Beichtspiegel, Psalmen und Predigttexte) sowie die volkssprachlichen Klassiker des literarischen Dreigestirns Dante, Petrarca und Boccaccio. Ein Rechenbuch (ein sog. libro d’abaco) war unerlässlich als Nachschlagewerk und Lehrwerk für alltägliche mathematische Aufgaben. Daneben wurden vom Familienoberhaupt in einem Familienbuch fortlaufend denkwürdige Ereignisse und Erinnerungen (Ricordanze) festgehalten. Einige Familienmitglieder versuchten sich auch selbst als Autoren erbaulicher Texte: Leonardos Halbbruder Lorenzo (1480–1531), ein Wollhändler, schrieb zwei kleine religiöse Abhandlungen. Noch handelt es sich bei den meisten Werken um handgeschriebene Codices. Der Buchdruck steht zur Zeit von Leonardos Jugend noch am Anfang, dies wird sich jedoch auch in Italien rasch ändern.
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Der Allgemeine Traktat der Zahlen und Maße des Niccolò Tartaglia (ca. 1499/1500–1557) zählt zu den bedeutendsten mathematischen Enzyklopädien der Frühen Neuzeit. Er enthält Abhandlungen zu praktischen Problemen der Arithmetik, Geometrie und Algebra, die im Alltag der Kaufleute häufiger begegneten. Sein Verfasser, ein in Brescia geborener Rechenmeister, teilt mit Leonardo, dass er sich sein Wissen als Autodidakt erworben hat. Auch das Lesen und Schreiben hat er sich nach eigenen Angaben selbst beigebracht. Die aufgeschlagene Doppelseite erklärt u.a. eine Methode zur Multiplikation, die auch in Florenz praktiziert und wohl auch von Leonardo in jungen Jahren erlernt wurde (114 ▲) – auch wenn das Lehrbuch etwas nach seiner Zeit entstand. Dieselbe Methode („rückwärts“ oder „von hinten“) wird auch von Leonardos Freund Luca Pacioli in seinem Rechenbuch Summa de arithmetica (74 ■) beschrieben.
Giusti, Enrico, und Paolo D’Alessandro. 2020. Leonardi Bigolli Pisani vulgo Fibonacci. Liber abbaci. Biblioteca di Nuncius 79. Florenz: Olschki.
Pizzamiglio, Pierluigi. 2012. Niccolò Tartaglia nella storia. Con antologia degli scritti. Mailand: EDUCatt Università Cattolica.