Kulturelle Herausforderungen <

Ich weiß wohl, manch Anmaßender wird glauben, er könne mich, da ich nicht Lateinisch kann, mit Recht tadeln, indem er anführt, ich sei kein gelehrter Mann. Törichte Leute!

Leonardo da Vinci

Codex Atlanticus, fol. 327v. Übersetzung: Marianne Schneider

 

 

Leonardo dürfte kaum Schwierigkeiten gehabt haben, sich die religiöse und literarische Überlieferung seiner Zeit in der Volkssprache anzueignen. Dies wurde als intellektuelle Sozialisation eines Sohnes aus dem Florentiner Bürgertum und eines jungen Künstlers, der in einer der angesehensten Werkstätten der Stadt ausgebildet worden war, gewissermaßen erwartet. Weitaus schwieriger war es hingegen, sich darüber hinaus sozial anders konnotierte Wissensfelder zu erschließen. Der Zugang zur Hochkultur war in den städtischen und höfischen Gesellschaften denen vorbehalten, die ein traditionelles Studium in Form eines geregelten Curriculum absolviert hatten. Das Beherrschen der lateinischen Sprache war unerlässlich für die Aneignung der wissenschaftlichen und literarischen Kultur der Antike. Insbesondere im kultivierten Umfeld des Mailänder Hofes wurde sich Leonardo seiner Defizite bewusst und er unternahm große Anstrengungen, sich entsprechend weiterzubilden. Neben dem Selbststudium der lateinischen Sprache zählte hierzu auch das Beherrschen aktueller literarischer Formen, etwa für die Konversation und schriftliche Korrespondenz, sowie die ständige Erweiterung des eigenen Vokabulars, etwa durch technische und literarische Ausdrücke. Auch die Erfindung gewitzter künstlerischer Sujets, wie sie im höfischen Milieu beliebt waren, erforderte eine gewisse Vertrautheit mit klassischen Bildungsinhalten. Die zunehmende Vielfalt der Interessensgebiete und Arbeitsfelder lässt sich auch in Leonardos Bibliothek ablesen. Ermöglicht wurde diese immer auch eng mit der eigenen Laufbahn verknüpfte intellektuelle Entwicklung nicht zuletzt durch den rasch an Bedeutung gewinnenden Buchdruck, der Werke billiger und leichter verfügbar machte.

Leonardos Berliner Bibliothek – 5. Abteilung <

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Philelphus, Johannes Marius. Epistolae. Basel: Johann Amerbach. 1486

Der Traktat des Giovanni Mario Filelfo (1426–1480) über die Kunst des Briefeschreibens erscheint als „pistole del filelfo” in mehreren Bücherlisten Leonardos (3 ; 4 ). Das Werk gliedert sich in einen theoretischen Teil und eine praktische Musterbriefsammlung für unterschiedlichste Anlässe – von Bittschreiben und Geschäftsbriefen bis hin zu Geburtsankündigungen, Beileidsbekundungen und „ernstgemeinten“ Liebeserklärungen – jeweils in unterschiedlichen Stillagen von familiär bis feierlich und mit Hinweis auf die jeweiligen, meist illustren Autoren der Beispiele. Obwohl ausschließlich auf Latein abgefasst, hatte die Sammlung für Leonardo durchaus praktischen Wert, konnte er sich doch beispielsweise an dem Verzeichnis standesgemäßer Anreden (Epitheta) für Adressaten unterschiedlichsten Ranges (vom Papst bis zum Bauern und Handwerker) orientieren.

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Literaturverweise

    Findlen, Paula. 2019. In Leonardos Library. The World of a Renaissance Reader, herausgegeben von Paula Findlen. Stanford, CA: Stanford Libraries, 150, Kat. 11.

    Pignatti, Franco. 1997. „Filelfo, Giovanni Mario“. In Dizionario biografico degli italiani. Bd. 47. Rom: Istituto della Enciclopedia Italiana.