Ich weiß wohl, manch Anmaßender wird glauben, er könne mich, da ich nicht Lateinisch kann, mit Recht tadeln, indem er anführt, ich sei kein gelehrter Mann. Törichte Leute!
Leonardo da Vinci
Codex Atlanticus, fol. 327v. Übersetzung: Marianne Schneider
Leonardo dürfte kaum Schwierigkeiten gehabt haben, sich die religiöse und literarische Überlieferung seiner Zeit in der Volkssprache anzueignen. Dies wurde als intellektuelle Sozialisation eines Sohnes aus dem Florentiner Bürgertum und eines jungen Künstlers, der in einer der angesehensten Werkstätten der Stadt ausgebildet worden war, gewissermaßen erwartet. Weitaus schwieriger war es hingegen, sich darüber hinaus sozial anders konnotierte Wissensfelder zu erschließen. Der Zugang zur Hochkultur war in den städtischen und höfischen Gesellschaften denen vorbehalten, die ein traditionelles Studium in Form eines geregelten Curriculum absolviert hatten. Das Beherrschen der lateinischen Sprache war unerlässlich für die Aneignung der wissenschaftlichen und literarischen Kultur der Antike. Insbesondere im kultivierten Umfeld des Mailänder Hofes wurde sich Leonardo seiner Defizite bewusst und er unternahm große Anstrengungen, sich entsprechend weiterzubilden. Neben dem Selbststudium der lateinischen Sprache zählte hierzu auch das Beherrschen aktueller literarischer Formen, etwa für die Konversation und schriftliche Korrespondenz, sowie die ständige Erweiterung des eigenen Vokabulars, etwa durch technische und literarische Ausdrücke. Auch die Erfindung gewitzter künstlerischer Sujets, wie sie im höfischen Milieu beliebt waren, erforderte eine gewisse Vertrautheit mit klassischen Bildungsinhalten. Die zunehmende Vielfalt der Interessensgebiete und Arbeitsfelder lässt sich auch in Leonardos Bibliothek ablesen. Ermöglicht wurde diese immer auch eng mit der eigenen Laufbahn verknüpfte intellektuelle Entwicklung nicht zuletzt durch den rasch an Bedeutung gewinnenden Buchdruck, der Werke billiger und leichter verfügbar machte.
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Leonardo hatte ein Faible für Fabeln und komische Literatur. Zu seiner Bibliothek gehörten neben zahlreichen Aesop-Ausgaben (11 ■] auch satirische Werke und derbhumoristische Erzählungen, sogenannte Fazetien (44 ■). In beiden Gattungen versuchte er sich auch selbst als Autor. Seine Texte reichen von stilistisch ausgefeilten Aphorismen bis hin zu obszönen Schwänken – ganz nach dem Geschmack des jeweiligen Publikums. Das vorliegende Blatt enthält inmitten von wissenschaftlichen Beobachtungen zum Pflanzenwuchs moralisierende Fabeln zu verschiedenen Baumarten – der Zitronatzitrone, dem Pfirsich, dem Nussbaum, der Feige und der Ulme – die jeweils durch kleine Skizzen illustriert sind und deren Moral darin besteht, dass das Streben nach möglichst vielen und großen Früchten den Baum letztlich ruiniert.
Leonardo da Vinci. 1952. Scritti letterari. Herausgegeben von Augusto Marinoni. Tutti gli scritti. Mailand: Rizzoli, 46–47, 51.
Vecce, Carlo, und Giuditta Cirnigliaro. 2013. Leonardo. Favole e facezie. Disegni di Leonardo dal Codice Atlantico. Ausstellungskatalog Biblioteca Ambrosiana, Mailand, 11.6–8.9.2013. Novara: De Agostini.