Ich weiß wohl, manch Anmaßender wird glauben, er könne mich, da ich nicht Lateinisch kann, mit Recht tadeln, indem er anführt, ich sei kein gelehrter Mann. Törichte Leute!
Leonardo da Vinci
Codex Atlanticus, fol. 327v. Übersetzung: Marianne Schneider
Leonardo dürfte kaum Schwierigkeiten gehabt haben, sich die religiöse und literarische Überlieferung seiner Zeit in der Volkssprache anzueignen. Dies wurde als intellektuelle Sozialisation eines Sohnes aus dem Florentiner Bürgertum und eines jungen Künstlers, der in einer der angesehensten Werkstätten der Stadt ausgebildet worden war, gewissermaßen erwartet. Weitaus schwieriger war es hingegen, sich darüber hinaus sozial anders konnotierte Wissensfelder zu erschließen. Der Zugang zur Hochkultur war in den städtischen und höfischen Gesellschaften denen vorbehalten, die ein traditionelles Studium in Form eines geregelten Curriculum absolviert hatten. Das Beherrschen der lateinischen Sprache war unerlässlich für die Aneignung der wissenschaftlichen und literarischen Kultur der Antike. Insbesondere im kultivierten Umfeld des Mailänder Hofes wurde sich Leonardo seiner Defizite bewusst und er unternahm große Anstrengungen, sich entsprechend weiterzubilden. Neben dem Selbststudium der lateinischen Sprache zählte hierzu auch das Beherrschen aktueller literarischer Formen, etwa für die Konversation und schriftliche Korrespondenz, sowie die ständige Erweiterung des eigenen Vokabulars, etwa durch technische und literarische Ausdrücke. Auch die Erfindung gewitzter künstlerischer Sujets, wie sie im höfischen Milieu beliebt waren, erforderte eine gewisse Vertrautheit mit klassischen Bildungsinhalten. Die zunehmende Vielfalt der Interessensgebiete und Arbeitsfelder lässt sich auch in Leonardos Bibliothek ablesen. Ermöglicht wurde diese immer auch eng mit der eigenen Laufbahn verknüpfte intellektuelle Entwicklung nicht zuletzt durch den rasch an Bedeutung gewinnenden Buchdruck, der Werke billiger und leichter verfügbar machte.
47-b. Leonardo da Vinci. Zweiter Briefentwurf
1508 |
Zwei Briefentwürfe
Nur wenige Briefe Leonardos haben sich erhalten, darunter das frühe „Bewerbungsschreiben“ an Ludovico Sforza (67 ▲) und die hier ausgestellten Briefentwürfe zur Durchsetzung von Leonardos königlichem Privileg der Wasserentnahme aus einem Mailänder Kanal. Das früher entstandene fol. 1037v enthält drei Schreiben an unterschiedliche Adressaten in dieser Angelegenheit, darunter an den Mailänder Gouverneur Charles d’Amboise (Mitte). Diese Gratwanderung aus Ehrerbietung und pragmatischer Zielsetzung, die auch strategische Hinweise auf eben vollendete Gemälde für den französischen König enthält, ist auf fol. 872 r nochmals überarbeitet und ins Reine geschrieben. Bereits die Tatsache, dass der sonst so selbstbewusste Künstler und Gelehrte ein Schriftstück mehrfach aufsetzt, verrät eine gewisse Unsicherheit in dieser Gattung. Ihr versuchte Leonardo durch die Anschaffung von Briefsammlungen, sog. Epistolari (43 ■), rhetorisch vorbildlicher Autoren zu begegnen.
Bambach, Carmen C. 2019a. Leonardo da Vinci Rediscovered. Bd. 3: The late Years 1506–1519. 4 Bde. New Haven / London: Yale University Press, 4–5, 262.
———. 2019b. Leonardo da Vinci Rediscovered. Bd. 4: Scholarly Apparatus to Volumes one, two, and three. 4 Bde. New Haven / London: Yale University Press, 362, Anm. 36.
Leonardo da Vinci. 1952. Tutti gli scritti. Scritti letterari. Herausgegeben von Augusto Marinoni. Mailand: Rizzoli, 212–214.
Manni, Paola. 2011. „Sulla duplice redazione di una lettera di Leonardo (Codice Atlantico, cc. 872r, 1037v)“. In Da riva a riva. Studi di lingua e letteratura italiana per Ornella Castellani Polidori, herausgegeben von Paola Manni und Nicoletta Maraschio. Quaderni della Rassegna 67. Florenz: Franco Cesati Editore, 273–284.
Marani, Pietro C., Hrsg. 2019. Lettres de Léonard de Vinci aux princes et aux puissants de son temps. Rom: De Luca Editori d’Arte.