Die Weisheit ist die Tochter der Erfahrung
Leonardo da Vinci
Codex Forster III, fol. 14r. Übersetzung: Jürgen Renn
Das Wissen, das Leonardo in seiner persönlichen Bibliothek versammelte, ist ein kollektives Wissen. Es beruht einerseits auf einer langen, bis auf die Antike zurückgehenden Tradition – andererseits auch auf der zunehmenden Mobilität der Menschen in Europa und ihres Wissens seit dem späten Mittelalter. Überseeschifffahrt und Buchdruck sorgten nochmals für eine große Beschleunigung der Wissenszirkulation. Kaufleute reisten auf den großen Handelsrouten und unterhielten Filialen in wichtigen städtischen Zentren, Teilnehmer der Kreuzzüge brachten Wissen vor allem aus dem arabischen Raum nach Europa, internationale Gelehrte und Studenten tauschten sich dank der lateinischen Universalsprache an den Universitäten aus, Künstler und Baumeister reisten auf der Suche nach lukrativen Aufträgen und neuesten künstlerischen Entwicklungen quer durch Europa und darüber hinaus. Entdeckungsreisende unternahmen gewagte Expeditionen in bisher unbekannte Erdteile und brachten neues Wissen zurück, während Kolonisatoren in ihrem Gefolge sich der neu entdeckten Gebiete bemächtigten – mit katastrophalen Konsequenzen für deren Bewohner. In Form von Berichten, Erzählungen, in der immer exakteren Konstruktion von geographischen Karten und in neuen wissenschaftlichen Abhandlungen wurde das neue Wissen niedergelegt und veröffentlicht. Die Folge war eine ständige Erweiterung und Veränderung des Weltbildes, das die Welt zugleich immer verfügbarer und beherrschbarer erschienen ließ. Auch in Leonardos Bibliothek wuchs der Anteil dieses neuen Wissens über die Jahre immer weiter an.
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Der in Florenz tätige Flame Jan van der Straet (1523–1605) stellt in seiner Stichserie Nova Reperta bedeutende Erfindungen und Entdeckungen vor, die der Antike unbekannt waren, darunter den Buchdruck, die Brille, die Ölmalerei – und vor allem die Neue Welt. Deren Namensgeber Amerigo Vespucci, ein Florentiner Zeitgenosse Leonardos, lokalisiert hier erstmals das Kreuz des Südens mithilfe eines Astrolabiums (98 ●). Mit dem Hinweis auf Dante Alighieri wird das Verdienst der Florentiner um die Entdeckung der Neuen Welt zusätzlich unterstrichen, hatte der Dichter doch im Purgatorio (I, 22ff.) seiner Göttlichen Komödie (21 ■) die Existenz des Sternbildes in der südlichen Hemisphäre vorhergesagt. Eine zusätzliche sakrale Überhöhung erfährt die stimmungsvolle nächtliche Szene durch ikonographische Reminiszenzen an die Ölbergszene mit dem wachenden Christus, den seine schlafenden Gefährten ebenfalls im Stich lassen.
Baroni Vannucci, Alessandra, und Manfred Sellink, Hrsg. 2012. Stradanus, 1523–1605. Court Artist of the Medici. Ausstellungskatalog Groeningemuseum, Brügge, 9.10.2008–4.1.2009. Turnhout: Brepols.
Markey, Lia. 2012. „Stradano’s Allegorical Invention of the Americas in Late Sixteenth-Century Florence“. Renaissance Quarterly 65 (2): 385–442.
McGinty, Alice Bonner. 1974. Stradanus (Jan van der Straet). His Role in the Visual Communication of Renaissance Discoveries, Technologies, and Values. Ph. D., Medford, MA: Tufts University.
Palm, Erwin Walter. 1985. „Amerika oder die eingeholte Zeit. Zum Lob des Vespucci von Joannes Stradanus“. In Gedenkschrift für Gerdt Kutscher. 2, herausgegeben von Anneliese Mönnich, Berthold Riese, und Günter Vollmer. Indiana 10. Berlin: Gebr. Mann, 11–17.