Die Mobilität des Wissens <

Die Weisheit ist die Tochter der Erfahrung

Leonardo da Vinci

Codex Forster III, fol. 14r. Übersetzung: Jürgen Renn

 

 

Das Wissen, das Leonardo in seiner persönlichen Bibliothek versammelte, ist ein kollektives Wissen. Es beruht einerseits auf einer langen, bis auf die Antike zurückgehenden Tradition – andererseits auch auf der zunehmenden Mobilität der Menschen in Europa und ihres Wissens seit dem späten Mittelalter. Überseeschifffahrt und Buchdruck sorgten nochmals für eine große Beschleunigung der Wissenszirkulation. Kaufleute reisten auf den großen Handelsrouten und unterhielten Filialen in wichtigen städtischen Zentren, Teilnehmer der Kreuzzüge brachten Wissen vor allem aus dem arabischen Raum nach Europa, internationale Gelehrte und Studenten tauschten sich dank der lateinischen Universalsprache an den Universitäten aus, Künstler und Baumeister reisten auf der Suche nach lukrativen Aufträgen und neuesten künstlerischen Entwicklungen quer durch Europa und darüber hinaus. Entdeckungsreisende unternahmen gewagte Expeditionen in bisher unbekannte Erdteile und brachten neues Wissen zurück, während Kolonisatoren in ihrem Gefolge sich der neu entdeckten Gebiete bemächtigten – mit katastrophalen Konsequenzen für deren Bewohner. In Form von Berichten, Erzählungen, in der immer exakteren Konstruktion von geographischen Karten und in neuen wissenschaftlichen Abhandlungen wurde das neue Wissen niedergelegt und veröffentlicht. Die Folge war eine ständige Erweiterung und Veränderung des Weltbildes, das die Welt zugleich immer verfügbarer und beherrschbarer erschienen ließ. Auch in Leonardos Bibliothek wuchs der Anteil dieses neuen Wissens über die Jahre immer weiter an.

Welt in Bewegung <

103.
Johann Theodor de Bry. Das vierdte Buch von der Neuwen Welt. Oder neuwe und gründtliche Historien, von dem Nidergängischen Indien, so von Christophoro Columbo im Jar 1492. erstlich erfunden. 1613

Im Frankfurter Verlagshaus des aus Lüttich stammenden Kupferstechers Theodor de Bry (1528–1598) und seiner Nachfolger Johann Theodor de Bry (1561–1623) und Matthäus Merian (1593–1650) erschien zwischen 1590 und 1634 eine mit 14 Bänden besonders umfassende Anthologie von Reiseberichten aus den neuentdeckten Erdteilen (damals noch überwiegend als West- und Ostindien bezeichnet). Ausgerichtet auf ein internationales Publikum war sie neben Deutsch auch auf Latein erhältlich. Der berühmte vierte Band (erstmals erschienen 1594) ist eine bebilderte Neuausgabe der auf Augenzeugenschaft beruhenden Historia del Mondo Nuovo von Girolamo Benzoni (1565). De Bry, der selbst niemals in Amerika war, überblendet in seinen Kupferstichen ethnographische Quellen mit Typologien der europäischen Bildtradition. Zur Bekräftigung seiner Anklage gegen die katholische Weltmacht Spanien spielt der Calvinist de Bry etwa in dieser eindringlichen Darstellung eines Massakers durch die Truppen des Alonso de Ojeda auf die biblische Szene des Bethlehemitischen Kindermords an.

DaV-210318-Grundriss-alle-markierten-Objekte-overlay
103

Literaturverweise

    De Bry, Theodor. 2019. America. Sämtliche Tafeln 1590–1602. Herausgegeben von Michiel van Groesen. Köln: Taschen.

    Greve, Anna. 2004. Die Konstruktion Amerikas. Bilderpolitik in den „Grands Voyages“ aus der Werkstatt de Bry. Europäische Kulturstudien 14. Köln u.a.: Böhlau.

    Keazor, Henry. 1998. „Theodore de Bry’s Images for ‚America‘“. Print Quarterly 2, June (15): 131–149.